Ausgerechnet Acetaprimid, das 11.000 mal giftiger ist als gedacht, wurde zusammen mit anderen Mittel jetzt über Notfallzulassungen erneut erlaubt. Die als Alzheimer-Pestizide bekannt gewordenen Neonicotinoide dürfen auch bei Kartoffeln und in Kürze wohl auch bei anderen Gemüsesorten gespritzt werden. So gelangen sie in viele Nahrungsmittel – Imker fürchten um das Leben ihrer Honigbienen. Der DBIB, BUND Naturschutz Bayern und BNL kritisieren die Zulassungen scharf.

Zahlreiche Spritzmittel aus der Gruppe der Neonicotinoide haben vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit jetzt eine Notfallzulassung erhalten und dürfen auf deutsche und bayerische Felder ausgebracht werden.
Der Deutsche Berufs- und Erwerbsimkerbund (DBIB), der BUND Naturschutz in Bayern und das Bündnis für Neonicotinoidfreie Landwirtschaft (BNL) kritisieren diesen Schritt scharf. Die BN-Agrarexpertin Rita Rott erklärt. „Es ist lange bekannt: Bereits kleinste Mengen dieser Stoffgruppe töten Insekten, sind giftig für Wasserlebewesen und schädigen das Nervensystem von Tier und Mensch. Deshalb wurden sie als Alzheimer-Pestizide bekannt. Vor allem bei Ungeborenen und Kleinkindern kann die Funktion von Nervenzellen und Gedächtnis gestört werden.“
Massive Belastung von vielen Lebensmitteln
Trotzdem wurden Ende März der Einsatz von sechzehn Mitteln gegen die Schilf-Glasflügelzikade für zunächst 120 Tage erlaubt. Darunter sechs mit dem Neonicotinoid Acetamiprid und eines mit Flupyradifurone, alles Mittel, die die gesamte Pflanze giftig machen. Die Zikade befällt Zuckerrüben, aber auch Kartoffeln und einige Gemüsesorten. Die Mittel wurden Ende März bei Zuckerrüben erlaubt, seit Ende April können sie auch bei Kartoffeln eingesetzt werden. Der Einsatz bei weiteren Wurzelgemüsen wird laut BVL derzeit geprüft und dürfte in wenigen Wochen erfolgen. „Wir befürchten eine neue massive Belastung von Lebensmitteln nicht nur mit Acetamiprid selbst, sondern auch mit seinen Zerfallsprodukten. Denn die Halbwertszeit dieses Stoffes beträgt bis zu 450 Tage und damit verbleiben Rückstände sehr lange im Boden“, so Rott weiter.
Verstöße gegen Auflagen – Gefahr für Honigbienen
Zudem sorgen sich Imker um ihre Bienen. Denn es wird nicht bekannt gegeben, auf welchen Flächen diese hochgiftigen Spritzmittel ausgebracht werden. Das war vor vier Jahren noch anders. Imker Matthias Rühl aus Sugenheim erinnert sich an seine Erfahrungen aus dem Jahr 2021 als bundesweit das Neonicotinoid Thiametoxam gegen Blattläuse über Saatbeize auf ca. 65.000 Hektar Böden ausgebracht wurde: „Da waren uns die Flächen bekannt und wir konnten unsere Bienenvölker rechtzeitig umstellen.“ Rühl ist auch Mitglied im BNL und beklagt, dass Auflagen oft nichts nutzen: „Unser Bündnis hat in Bayern nachgewiesen, dass die strengen gesetzlichen Auflagen von den Landwirten nicht annähernd eingehalten wurden.“
Systemische Wirkung und Abdrift in die Umwelt
Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Uni Hohenheim hat gezeigt, dass gerade der Wirkstoff Acetamiprid für bestimmte Insekten über 11.000-mal giftiger ist als vorgeschriebene Empfindlichkeitstests, zum Beispiel an Honigbienen, vermuten lassen. Darüber hatte auch der Berufsimkerbund (DBIB) berichtet. Weil der Stoff systemisch wirkt und sich in der ganzen Pflanze ausbreitet, wird er auch leichter verbreitet und z.B. bei Regen weit in die Umwelt abgeschwemmt. Während bislang bei Zuckerrüben mit einer Beize nur das Saatgut behandelt wurde, wird Acetaprimid großflächig auf die wachsenden Blätter gespritzt.
Ökologischer Kahlschlag und Gefahr für jeden Bürger
Insgesamt wurden für das Jahr 2025 nun 16 Notfallzulassungen gegen die Schilfglasflügelzikade erteilt. Auf über 125.000 Hektar soll gespritzt werden. Weitere Notfallzulassungen sind angeblich in Vorbereitung. Aufgrund der zu erwartenden massiven Abdrift wird aber eine weit größere Fläche von geschätzt über 500.000 Hektar betroffen sein. Zudem werden mehrfache Behandlungen empfohlen. Damit ist ein regelrechter ökologischer Kahlschlag in der Insektenwelt zu befürchten. Und auch Menschen sind direkt gefährdet, wenn Spaziergänger mit ihren Hunden oder spielende Kinder mit gespritzten Pflanzen in Kontakt kommen. Das BNL sieht in den sich ständig wiederholenden Notfallzulassungen nichts anderes als einen schleichenden Weg in die Dauernutzung.
Spritzen unnötig: Intelligente Fruchtfolge statt Pestizide
Claudia Lehner-Sepp vom BNL betont: „Eine Pestizidbehandlung und damit eine Gefährdung der Umwelt und unserer Lebensmittel wäre überhaupt nicht erforderlich, wenn eine vernünftige Fruchtfolge eingehalten würde, die den Lebenszyklus der Zikade stört. So mindert der Verzicht auf Wintergetreide nach Zuckerrüben und Kartoffeln den Befall wesentlich, wie eine Studie der Berner Fachhochschule zeigt“
Links und Quellen:
- Studie der Berner Fachhochschule, Entwicklung der Zikade kann effektiv mit der richtigen Fruchtfolge beeinflusst werden: Regionale Fruchtfolge gegen Syndrome Basses Richesses (SBR)
- Foodwatch – Insektengift in Lebensmitteln: https://www.foodwatch.org/de/gefaehrliches-insektengift-in-lebensmitteln
- Abdrift von oberflächlich ausgebrachten Spritzmitteln: https://rptu.de/newsroom/pressemitteilungen/detail/news/pressemeldung-studie
- Neonicotinoide bedrohen Biodiversität: https://www.topagrar.com/acker/news/neonikotinoide-bedrohen-biodiversitat-starker-als-gedacht-20012742.html
- Acetaprimid 11.000-mal gefährlicher als gedacht: https://berufsimker.de/pestizidwirkung-auf-insekten-drastisch-unterschaetzt/
- Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL): https://www.bmel.de/DE/themen/landwirtschaft/pflanzenbau/pflanzenschutz/schilf-glasfluegelzikade.html)
- Notfallzulassungen des Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, BVL-Bund: https://www.bvl.bund.de/DE/Arbeitsbereiche/04_Pflanzenschutzmittel/01_Aufgaben/02_ZulassungPSM/01_ZugelPSM/02_Notfallzulassungen/psm_ZugelPSM_notfallzulassungen_basepage.html;jsessionid=64562F456C9D978C6D0D054455CA9AAA.internet982?nn=11031260#doc11031262bodyText4
Rückfragen an
Matthias Rühl
Sprecher beim Bündnis für Neonicotinoidfreie Landwirtschaft
E-Mail: matthias.ruehl(at)t-online.de
Janine Fritsch
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Deutscher Berufs- und Erwerbsimkerbund
Tel: 0151 / 651 68 241
E-Mail: presse(at)berufsimker.de
Rita Rott
Agrarreferentin, BUND Naturschutz
Tel. 0175 / 355 97 06
E-Mail: rita.rott(at)bund-naturschutz.de">rita.rott(at)bund-naturschutz.de